WOVEN SPACES

Marianne Stüve
Some lines in the space.... and messages in a bottle

Seit unvordenklichen Zeiten bilden Mensch und Kommunikation eine unauflösliche Einheit.

Auch Tiere kommunizieren. Sie signalisieren einander Gefahr oder Wohlbefinden und nutzen dabei ihre akustischen, optischen oder haptischen Möglichkeiten. Aber für uns Menschen ist die Kommunikation ein ganz besonders konstitutioneller Bestandteil unseres Seins. Nur durch den geistigen Austausch mit anderen entwickeln wir unsere individuelle Identität. Andererseits entsteht die Gesellschaft durch die kommunikative Verflechtung ihrer Einzelindividuen: ein immer problematischer, nie endender Prozess im Positiven (Geborgenheit und Glück) wie im Negativen (Streit und Krieg).

Marianne Stüve schafft Flechtwerke. Sie zeichnet Linien in den Raum, wölbt Gitter-Flächen zu Raum-Objekten (die manchmal auch „gegenständlich“ deutbar werden: „Medusen“, „Flaschen“), oder definiert vorhandene architektonische Räume durch Linien/Flächen/Objekte neu („Blaue Nacht“, Nürnberg 2002). In ihrer aktuellsten, hier primär präsentierten Werkgruppe nutzt sie Fotografien ihrer dreidimensionalen Arbeiten um sie mit Hilfe digitaler Überarbeitung in zweidimensionale „Malerei“ zu überführen. Dadurch kehrt sie zu ihrem künstlerischen Ausgangspunkt zurück – aber mit neuen Techniken und weiterentwickelten Aussagen.

Marianne Stüve geht es nicht nur darum, aus Nylonfäden formal interessante Kunst-Objekte im Raum zu weben oder Bilder mit dem Computer zu „malen“. Vielmehr reflektiert ihre ganze künstlerische Arbeit auch das Verflochtensein ihrer Existenz mit der Existenz anderer Menschen. So entsteht ein exemplarisches Beispiel für das soziale gesellschaftliche Netzwerk, in dem wir alle positioniert sind.

Die Werkgruppe der „Flaschen“ symbolisiert dies exemplarisch (wenn auch verschlüsselt): Vordergründig betrachtet umschließt ihr Flechtwerk lediglich einen leeren Raum, also ein „Nichts“. Hintergründig aber sind Flaschen Gefäße, in die etwas gefüllt werden soll: in der Primärnutzung grundsätzlich Flüssigkeiten – in der Sekundärnutzung durchaus auch „nur“ Gedanken (und somit „Alles“).  Eine Flaschenpost (Messages in a Bottle“) wird von ihrem Absender auf die Reise ins unbekannte Nirgendwo=Überall geschickt. Sender und Empfänger kennen einander nicht! Wird die Botschaft überhaupt einen Empfänger finden?

Welch eine Metapher für das Verhältnis zwischen Künstler und Betrachter! Jedes Kunstwerk ist ein Gefäß, dem der Künstler seine Gedanken anvertraute – aber auch ein Gefäß in das jeder Betrachter seine eigenen Gedanken legen kann. Der Künstler entlässt seine für ihn abgeschlossene Arbeit auf ihre Reise ins Unbekannte. Aber diese Reise kann erst dann vom bedeutungslosen Nirgendwo zum bedeutungsvollen Überall führen, wenn das Kunstwerk von einem Betrachter für sich entdeckt wird – wenn sich also die verschlossene Flasche wieder öffnet um die Nachricht des Künstlers freizugeben bzw. die Gedanken des Betrachters aufzunehmen. Erst dann wird aus dem „Nichts“ ein „Sein“.

Zusätzlich treten die „Flaschen“ meist nicht als „Einzelindividuen“ auf, sondern gruppieren sich zu  kleinen „Gesellschaften“, die nicht nur mit dem Betrachter, sondern auch untereinander zu kommunizieren scheinen. Im gegenseitigen Wechselspiel steigern sie sich gegenseitig im Ausdruck von Beweglichkeit, Leichtigkeit und Offenheit.

Diese drei Eigenschaften zeichnen auch Marianne Stüves Persönlichkeit aus – und sind in ganz individueller Weise gepaart mit Geradlinigkeit, Organisationstalent und Durchsetzungsvermögen. Ihr Weg zur Selbstdefinition als Künstlerin war dabei keineswegs von Anfang an vorgezeichnet. Beruflich ursprünglich als Fremdsprachenkorrespondentin für Italienisch und Französisch tätig, lebte sie später viele Jahre in Brasilien mit ihren beiden Söhnen und ihrem Mann, der dort beruflich engagiert war. Brasilien wurde zur Schlüsselerfahrung. Dort lernte sie viele sehr kommunikative Menschen kennen. Dort studierte sie Kunst. Dort wurde sie zur Mitbegründerin von PONTE CULTURA, dessen brasilianisch-europäischen Künstleraustausch sie heute maßgeblich organisiert. Marianne Stüve fühlt sich selbst nach wie vor als brasilianisch-europäische Künstlerin. Die Kommunikation steht im Zentrum ihrer Aktivitäten. Das world-wide-web ist ihr Arbeitsgerät – die gewebten Räume ihrer „Messages in a Bottle“ ihr Symbol.

Günter Braunsberg